Lippfische sind die extremsten Verwandlungskünstler unter den Fischen. Juvenile, Adulte, Weibchen und Männchen sehen oft so unterschiedlich aus, dass man nicht im Traum darauf kommt, dass es sich um die gleiche Art handeln könnte. Rekordverdächtig ist der Mexikanische Lippfisch, der in den Riffen der südamerikanischen Pazifikküste vorkommt. Er bringt es vom kleinen bis zum großen Lippfisch auf fünf Erscheinungsformen. Als wären das nicht schon Probleme genug, belegen Lippfische nach den Grundeln und den Plattfischen Platz drei in Sachen Artenreichtum. Multipliziert mit den unterschiedlichen Erscheinungsformen müsste man für die Zuordnung rund 1500 Bilder im Kopf haben. Das alleine wäre schon eine Lebensaufgabe und macht die Bestimmung der Lippfische besonders schwierig.
Der Grund für diese unterschiedlichen Erscheinungsformen liegt im territorialen Verhalten der Männchen. Sie dulden in ihrem Gebiet keinen Konkurrenten, denn sie wollen ihren Harem ganz für sich alleine haben. Das gleiche gilt für die Weibchen. Aber ein Lippfisch wäre kein Lippfisch, wenn er dafür keine Verwandlungslösung fände. Bei manchen Arten tarnen sich die Männchen als Weibchen und bekommen so bei der Paarung auch mal eine Chance ein paar Eier zu befruchten. Und um noch eins drauf zu setzen: Stirbt der Haremschef, wechselt eines der Weibchen mal kurz sein Geschlecht und Aussehen und wird selbst zum Chef. Jetzt gibt es noch ein letztes Problem: Wenn jedes Männchen einen Harem mit bis zu 10 Weibchen braucht, wo kommen dann die ganzen Weibchen her? Ganz einfach: Wenn ein Lippfisch geschlechtsreif wird, ist er ein Weibchen. Erst später wandeln sich einige in Männchen um.
Wer sich soviel um sein Äußeres kümmern muss, hat keine Zeit mehr für die Brutpflege. Lippfische laichen ins freie Wasser ab und die Eier und die geschlüpften Jungfische werden Teil des Meeresplanktons, bis sie ab einer bestimmten Größe ins Riff oder Seegras zurückkommen.
Lippfische gehören neben den Falter- und Kaiserfischen zu den farbenprächtigen Bewohnern der Korallenriffe. Alle Lippfischarten leben im Riff oder Seegras, keine einzige Art pelagisch. Lippfische ernähren sich carnivor, d.h. sie sind Fleischfresser. Bevorzugt gehören Wirbellose zu ihrer Beute. Manchmal verhalten sie sich wie echte Schnorrer, indem sie z.B. Meerbarben begleiten, um mal zu schauen, was bei deren Herumwühlen so abfällt. Andere wieder sind begehrte Dienstleister. Die Reviere der Putzerlippfische werden von allen anderen Bewohnern des Riffes gerne besucht. Wem die Reise zu den Putzerstationen zu gefährlich ist, zu dem kommt der Putzerlippfisch auch mal nach Hause. Fast 10% der Lippfischarten putzen, manche allerdings nur als Juvenile.
Lippfische heißen Lippfische, weil sie ausgeprägte Lippen haben. Bei dem mit 2,30 m größten Lippfisch, dem Napoleon, ist dieses Erkennungsmerkmal sehr deutlich und gut zu sehen. Weitere Erkennungsmerkmale: Lippfische können ihre Augen unabhängig voneinander bewegen. Sie schwimmen fast immer nur mit den Brustflossen, die sie gleichzeitig bewegen, und die Schwanzflosse dient nur als Ruder. Die meisten Lippfische sind zwischen zehn und dreißig Zentimeter groß, der kleinste sechs.
Ca. 517Arten in 71 Gattungen sind beschrieben.
Lippfische leben in den subtropischen und tropischen Bereichen aller Ozeane. Einige wenige Arten auch in kälteren Regionen wie dem Mittelmeer, dem nördlichen Atlantik und der Nordsee.